Melli Hinz hat eine schöne Stimme. Sie klingt jung, aufgeweckt, lebensbejahend. Eine Stimme, die Menschen in psychischen Krisen Zuversicht spendet. Und es ist nur diese Stimme. Das Gesicht dazu sehen allein ihr Mann und ihre 20-jährige Tochter. Alle anderen höchstens virtuell, auf dem Bildschirm. Seit Beginn der Corona-Pandemie ist das schon so. Mit Klient*innen telefoniert sie oder trifft sie in Videokonferenzen. Gleiches gilt für Kolleg*innen.
Melli ist Genesungsbegleiterin bei der Brücke Schleswig-Holstein. Sie ist 45 Jahre jung, wohnt im Herzogtum Lauenburg und unterstützt Menschen in Ratzeburg. Menschen, die wie sie psychisch beeinträchtigt sind.
Der Höhepunkt ihrer Erkrankung liegt allerdings bereits mehrere Jahre zurück. „2015 ging es für mich weder vorwärts noch rückwärts. Ich war völlig überlastet.“ Melli kommt in eine psychiatrische Klinik. Mit insgesamt vier Diagnosen, unter anderem einer Angststörung. Der Klinikaufenthalt tut ihr gut, drei Monate später ist sie wieder zuhause. „Alle dachten: Sie ist wieder da, es geht weiter wie vorher. Aber mein Alltag passte nicht mehr zu mir.“
Von einer Freundin hört sie von den Ambulanten Hilfen der Brücke SH. „Und dann kam Tina!“ Tina Kufeld ist systemische Therapeutin. Sie steht Melli zur Seite, mit Gesprächen, beim Einkaufen – „alleine vor die Tür zu gehen war undenkbar“ – bei Behördengängen, insgesamt zwei Jahre lang. Mit Tinas Unterstützung gelingt es ihr auch wieder mit dem Hund raus oder zu Elternabenden zu gehen. „Vorher konnte ich meine Rollen gar nicht mehr erfüllen, ich hatte mit mir selbst genug zu tun. Endlich hatte ich jemanden, der mir beisteht, wenn es brennt. Tina war wie ein Joker, den ich ziehen konnte.“
Melli geht es besser. Sie sitzt soweit wieder im Sattel, erlangt Kompetenzen zurück. „Es fühlte sich Stück für Stück wieder nach mir an.“ 2017 steigt sie ehrenamtlich in die Angehörigengruppe der Brücke SH in Ratzeburg ein.
Im selben Jahr hört Melli Hinz dann von „EX-IN“. Das ist ein Kurs, in dem Menschen mit Krisen- und Psychiatrie-Erfahrung als Genesungsbegleiter*innen qualifiziert werden. Vor dem Hintergrund ihrer eigenen Erfahrungen unterstützen sie andere Betroffene bei ihrem Genesungsprozess. Die Ausbildung besteht aus zwölf Modulen und zwei Praktika.
In dieser Zeit setzen sich die Teilnehmer*innen intensiv mit der eigenen Geschichte auseinander und lernen Methoden, wie sie ihre Erfahrungen für andere hilfreich nutzen können. Voraussetzung ist die eigene angemessene psychische Stabilität.
Melli ist soweit stabil, sie bewirbt sich bei der Brücke SH um ein Stipendium – und hat Erfolg. In den darauffolgenden zwei Jahren ändert sich ihr Leben komplett. „Der Kurs war wie eine Therapie für mich und der Austausch so wertschätzend und respektvoll. Zu erfahren, dass ich nicht allein bin, hat mich sehr viel stärker gemacht.“ Melli zündet bis heute zu jedem Jahrestag ihrer Stipendium-Zusage eine Kerze an. „Aus der ständigen Frage: Warum gerade ich? wuchs die Erkenntnis: Mein Krisenwissen ist ein wahrer Schatz. Damit kann ich anderen helfen.“
Nur eben nicht von Angesicht zu Angesicht. Denn nicht nur Mellis Psyche leidet, sie hat auch seit vielen Jahren eine Autoimmunerkrankung. Der Kontakt zu anderen Menschen ist zurzeit zu gefährlich. Viel mehr als Spazierengehen ist draußen also wieder nicht drin. Nur aus anderen Gründen als damals. Aber sie macht das Beste draus, trifft sich mit Freunden zu Spieleabenden, besucht Museen – aber jetzt alles online.
Dass sie das nicht wieder in eine Krise hat stürzen lassen, hat sie vor allem auch dem EX-IN-Kurs zu verdanken, ist sie sich sicher. „Dank der Erfahrungen, die ich da sammeln durfte, bin ich in der Pandemie geistig und psychisch stabil geblieben. Ich frage mich jetzt immer: Was kann ich aus der Situation machen, dass sie für mich gut wird?“
Solche Denkweisen, ihre Erfahrungen, all das gibt Melli weiter. Seit 2020 arbeitet sie nun schon als Genesungsbegleiterin. Für ihre Klient*innen geht es um Tagesstruktur, Austausch, Herausforderungen im Alltag, darum gemeinsam Gesellschaftsspiele zu spielen – auch das klappt am Laptop wunderbar – und darum, mit jemandem reden zu können, der einen versteht. Und Geschichten wie Mellis machen Mut: Wenn es die Genesungsbegleiter*innen geschafft haben, können es andere Betroffene auch.
„Es geht nicht darum, dass ich als Erfahrene meine eigenen Erfahrungen anderen überstülpe, aber es hilft um die Ecke zu denken um auf eigene Ideen zu kommen.“ Genesungsbegleiter*innen seien so wichtig in einem multiprofessionellen Team, weil sie die Sichtweise der Klient*innen nie aus dem Blick verlieren, sagt Melli. Ihr großer Wunsch ist es EX-IN-Trainerin zu werden, andere Genesungsbegleiter*innen auszubilden. „Wir brauchen die Betroffenenperspektive!“
Und wer sich entscheidet einen ähnlichen Weg zu gehen, anderen mit eigenen Erfahrungen zur Seite zu stehen, der wird reicht beschenkt, sagt Melli: „Mein Job zieht mich nicht runter, weil er sich um die Sorgen psychisch erkrankter Menschen dreht. Im Gegenteil. Er zeigt mir jeden Tag aufs Neue wo ich schon stehe, was ich geben und nehmen kann. Auch ich lerne dazu. Es ist so schön zu sehen, was ich mit den Menschen zusammen erreichen kann, wie sie sich weiterentwickeln, mutiger werden. Es ist ein großes Geschenk dabei zu sein.“