Es gibt Menschen, denen sieht man ihre Vergangenheit an. Und es gibt Menschen wie Nadja. Wenn man der 32-jährigen gegenübersitzt, blickt man in ein warmes Lächeln. In leuchtende Augen. Voller Zuversicht und mit großen Plänen fürs Leben. Ein Leben, dass sich Nadja Witt vor sechs Jahren noch nehmen wollte.
Nadja wächst im Norden Schleswig-Holsteins auf, in der Nähe von Flensburg. Zu ihrer drei Jahre jüngeren Schwester hat sie in ihrer Kindheit ein enges Verhältnis, zu ihren Eltern – besonders zum Vater – eher weniger. Trotzdem sind ihre ersten Lebensjahre „relativ normal“, wie sie sagt. Erst als sie neun ist und sich ihre Eltern trennen, gerät ihr Leben langsam aber sicher aus den Fugen. Nadja fühlt sich immer schlechter, redet das damals aber klein: „Ich war ja schon immer ein Trauerkloß, das habe ich nicht als Depression wahrgenommen, sondern als Wesenszug.“ In der Schule wird sie ausgegrenzt und zuhause wird ihre kleine Schwester zum „Problemkind“. „Wir haben uns immer weiter voneinander entfernt. Ich musste funktionieren, allein schon für meine Eltern. Ich konnte niemandem erzählen, wie es mir geht.“ Auch nicht, als sie mit zwölf Jahren sexuell missbraucht wird. Von einem Bekannten ihres Papas. Da habe sie sich niemandem anvertraut aus Angst ihren Vater zu enttäuschen. Und ihre Mutter sei immer schnell mit allem überfordert gewesen. „Sie hat mich emotional allein gelassen, aber das nehme ich ihr nicht übel. Sie hat selbst schlimme familiäre Erfahrungen gemacht.“
Andere Beziehungen hat Nadja in ihrer Jugend kaum. Nur eine gute Freundin. Mit der kann sie zumindest über ihre Probleme in der Schule sprechen. Dort fühlt sie sich unwohl und unsicher, muss schließlich eine Klasse wiederholen. In der Abi-Zeit hat sie dann erste Suizidgedanken. Ihr Wille das Abitur zu schaffen ist aber so stark, dass sie sich richtig ins Zeug legt und Anfang 20 zum Studieren nach Thüringen zieht. Doch eineinhalb Jahre später geht nichts mehr. Sie ist depressiv, hat Bulimie. „Die Angst Fehler zu machen hat mich gelähmt. Ich bin vor Prüfungen weggelaufen, habe Abgabetermine verstreichen lassen, weil ich nicht versagen wollte.“ Nadja lebt nur noch für ihre Essstörungen. „Es ging darum, Lebensmittel zu beschaffen, zu fressen, zu kotzen, mich zu wiegen, zu hungern und ganz viel zu wandern.“ Ein Kreislauf, bis ihr eigener zusammenbricht. Immer wieder. Vier Monate herrscht dieser Extremzustand. Dann bricht sie ihr Studium ab und ergreift die Flucht nach Hause. Zu ihrer Mama nach Flensburg.
Hier sucht sich Nadja zum ersten Mal Hilfe, geht zu einer Therapeutin. Auf drei ambulante Sitzungen folgt ein Klinikaufenthalt in Malente. Dort verbringt sie acht Wochen, auch ihren fünfundzwanzigsten Geburtstag. „Die Zeit war aufwühlend und richtig anstrengend, aber ich habe da viel gelernt, kann auch wieder Essen bei mir behalten.“
Zurück in Flensburg geht’s mit einer ambulanten Therapie weiter. Doch in dieser Zeit beginnt Nadja sich selbst zu verletzen, hat immer noch Suizidgedanken und macht 2017 schließlich ernst: Mit 26 Jahren versucht sie ihrem Leben mit einer Überdosis Medikamenten ein Ende zu setzen. Weil der Freund ihrer Mutter sie rechtzeitig findet, landet sie in der Notaufnahme, bleibt weitere zwei Wochen in der Neurologie bis sie sich selbst entlässt. Für nur vier Tage zieht sie zurück zu ihrer Mama, lässt sich dann aber in die Psychiatrie einweisen. Vier Wochen später folgt ein Aufenthalt in einer Tagesklinik und darauf wieder ein stationärer Klinikaufenthalt, diesmal in Hamburg. Doch seit ihrem ersten Suizidversuch hat Nadja die Kontrolle über sich verloren. „Es war, als ob meine zerstörerische Seite dadurch zum Vorschein kam. Immer wieder brach die Wut durch.“ Sie verletzt sich so oft selbst, dass sie mehrfach der Klinik verwiesen wird. Nur knapp entkommt sie einem zweiten Suizidversuch und weist sich in die Notaufnahme ein.
Nadja wird klar, dass sie mehr Unterstützung braucht, als sie zuhause bekommen kann. In Absprache mit der Eingliederungshilfe bewirbt sie sich auf einen Platz in den teilstationären Wohngruppen der Brücke Schleswig-Holstein in Schleswig. Zum 1. Dezember 2017 zieht sie ein. Wenige Monate darauf beginnt sie eine ambulante Therapie. Es geht endlich bergauf. „Die Zeit hier in den Wohngruppen hat mich echt gestärkt. Zu wissen, dass ich unterstützt werde bei alltäglichen Dingen wie Terminvereinbarungen mit Ärzten oder dem Jobcenter, das hilft enorm.“ Sie und die anderen Bewohner*innen lernen hier mit Unterstützung von Fachkräften auch eigene Fähigkeiten weiterzuentwickeln und ihren Alltag selbst zu bewältigen.
Und Nadja erlebt Gemeinschaft. Ab 2019 besucht sie in Schleswig die Tagesstätte der Brücke SH. In den folgenden zwei Jahren lernt sie hier unter anderem ihren Tag zu strukturieren. Und sie lernt ihre Stärken kennen. Sie engagiert sich im Nutzer*innenrat und schließlich auch in der Begegnungsstätte der Brücke SH. „Ich will andere unterstützen und den ganzen Mist, den ich erlebt habe, den kann ich dafür nutzen.“ In der Begegnungsstätte geht es darum, sich in Gesellschaft wohlzufühlen, miteinander zu reden und gemeinsam etwas zu unternehmen. Ein offenes Angebot, das alle nutzen können, auch Menschen, die – wie Nadja – psychische Krisen durchlebt haben. Zunächst hilft sie hier ehrenamtlich, seit April 2022 in Festanstellung mit sieben Stunden die Woche. Ihr allererster Arbeitsvertrag. „Das Gefühl, als ich den unterschrieben hatte, war so unglaublich. Endlich hatte ich was gefunden, das ich kann, das mich beruflich erfüllt.“ Genau da knüpft sie an, beginnt fast zur selben Zeit mit EX-IN. Das ist ein Kurs, in dem Menschen mit Krisen- und Psychiatrie-Erfahrung als Genesungsbegleiter*innen qualifiziert werden. Vor dem Hintergrund ihrer eigenen Erfahrungen unterstützen sie andere Betroffene bei ihrem Genesungsprozess. Die Ausbildung besteht aus zwölf Modulen und zwei Praktika.
Heute steht Nadja kurz vor ihrem Abschluss. Mit dem Wissen um ihre Stärken. „Ich werde hier für meine Ruhe, Begeisterungsfähigkeit, meine Kreativität und mein Feingefühl wertgeschätzt. Durch EX-IN habe ich das erste Mal sowas wie Selbstbewusstsein gespürt, das war so bewegend und befreiend.“ Und sie hat jetzt Wünsche und Ziele, möchte nach und nach versuchen mehr zu arbeiten, in der Begegnungsstätte aber auch an sich selbst. „Ich werde weiter aufarbeiten, was ich erlebt habe, will inneren Frieden finden und lernen, mehr Nähe zuzulassen.“ Auch der Führerschein steht auf ihrer To-do-Liste, genau wie die Suche nach einer eigenen Wohnung.
Vor allem aber will Nadja leben. „Die Suizidgedanken kommen zwar manchmal noch, aber sie ziehen weiter wie Wolken, bleiben nicht haften. Ich weiß jetzt, dass ich lebensfähig bin. Auch dank der Brücke SH und der Menschen hier, die an mich glauben, mich verstehen und unterstützen.“ Erfahrungen, die sie als Genesungsbegleiterin weitergibt: „Nehmt euch ernst, redet eure Gefühle nicht klein. Ihr habt ein Recht darauf euch Unterstützung zu suchen. Denn: Veränderung ist möglich, so unwahrscheinlich das in manchen Lebenssituationen auch klingen mag.“