Lew Piekielny hat in seinen 25 Jahren schon einiges durchgemacht: Er hat zwei Ausbildungen abgebrochen, acht Wochen in einer psychiatrischen Klinik verbracht und ein halbes Jahr auf der Straße gelebt. Heute hat der Kieler ein Ziel vor Augen. Und Unterstützung bei der Brücke Schleswig-Holstein gefunden.
Lew ist 18 als seine Mutter ihm klarmacht: So geht’s nicht weiter, du musst zuhause raus. Sie besorgt ihm eine Wohnung und einen Ausbildungsplatz im Einzelhandel. „Vier Monate lief alles gut, dann kam die Depression wie ein Lastwagen aus dem Nichts angerast“, sagt Lew.
Schon als Kind ist er ein eher stiller Typ, zieht sich oft zurück und ist traurig, aber erst während der Ausbildung kommen echte Antriebslosigkeit und ein verminderter Lebenswille dazu. Lew ist häufig krankgeschrieben. Das wirft nicht nur im Kollegen- und Freundeskreis, sondern auch in seiner Familie Fragen auf. „Ich habe mir dann einen Freund ausgedacht, der sich das Leben genommen hat. Er war mein vorgeschobener Grund, warum ich so down bin.“
Das ist 2017. In dieser Zeit stellt seine Mutter den Kontakt zu einer Trauerhilfe her. Eines späten Abends steht sie mit ihr vor Lews Tür. Die beiden fahren ihn in eine psychiatrische Klinik. Hier bekommt er zum ersten Mal eine Diagnose: Depression, Panikstörung und soziale Phobie. Doch er bleibt nur ein paar Stunden in der Klinik, nimmt keine Hilfe an. „Ich war stur, stand mir selbst im Weg.“
Lew kann sich nicht mehr aufraffen zur Arbeit zu gehen, fehlt insgesamt fast fünf Monate und verliert kurz darauf nicht nur seinen Ausbildungsplatz, sondern auch seine Wohnung. Von da an lebt er auf der Straße. Allein in der Schleswig-Holsteinischen Landeshauptstadt ohne Dach über dem Kopf und ohne, dass Familie oder Freunde davon wissen. „Ich bin weiter meinen Hobbies nachgegangen, habe Kumpels getroffen damit es keinem auffällt. Es war mir peinlich. Ich wusste ja nicht was mit mir los war.“
Aber es fühlt sich für Lew auch nicht nach Versagen an. „Gescheitert bin ich ja schon weit davor, saß zuhause nur am PC und hatte keine Struktur im Alltag. Ich war gefühlsmäßig so abgestumpft, dass ich es hingenommen habe.“
Sein Laptop ist auch das Einzige, das er im Gepäck hat, als er seine Obdachlosigkeit im Dezember gegen ein Leben zurück im Elternhaus tauscht. Er zieht zu seinem Vater nach Lübeck, hält es aber auch dort nur drei Monate aus. Im März 2018 geht es wieder nach Kiel. Lew lebt insgesamt zwei Jahre in einer sozialpsychiatrischen Wohnform und hat wieder einen geregelten Tagesablauf. Doch obwohl er zwischenzeitig sogar für zwei Monate in eine psychiatrische Klinik kommt, ändert sich kaum etwas an seinem psychischen Zustand.
2020 zieht er aus – und bei seinem besten Freund ein. Zwei Monate leben die beiden in einer WG, bis sein Kumpel beschließt mit seiner Freundin zusammenzuziehen. Die Wohnung kann Lew sich nur dank der Unterstützung des Jobcenters weiter leisten.
Im darauffolgenden Jahr wieder ein Lichtblick: Er beginnt Ausbildung Nummer zwei, zum Programmierer. Die ersten Wochen laufen super. „Dann brach zuhause das Chaos aus: Die Küche verkam, die Wäsche lag rum. Mein Tag bestand aus: Job, PC, Bett – am nächsten Tag genau das Gleiche.“ Für den Haushalt hat er keine Energie. Dann folgt der erste Schulblock, dann der zweite und dann geht es richtig bergab. Er meldet sich immer wieder krank, fehlt teils unentschuldigt. Anfang 2022 folgt der Auflösungsvertrag.
Lew ist an einem Punkt im Leben angekommen, an dem er nicht mehr weiß wie und wo es weitergeht. Bis er über die Regionale Ausbildungsbetreuung Kiel schließlich den Weg zur Brücke SH findet und hier Ende 2022 mit einer Soziotherapie beginnt. Die unterstützt Menschen mit schwerwiegenden psychosozialen Beeinträchtigungen dort, wo andere Hilfen nicht oder noch nicht greifen.
Mario Tkacz ist Diplom-Sozialpädagoge und anerkannter Soziotherapeut in Kiel. Er erstellt zusammen mit Lew und seinem Facharzt einen Behandlungsplan. Für den 25-jährigen geht es um Alltagsstruktur, Motivation und Entlastung. Eins seiner Ziele: Eine Psychotherapie. „Ich will herausfinden, was mit mir los ist. Weil ich einen Haufen Dinge habe, die ich machen will, mir aber selbst dabei im Weg stehe.“ Mario hilft ihm bei der Suche nach einem Therapieplatz, die beiden sehen sich alle zwei Wochen. „Wir reflektieren, vernetzen und gucken, welchen Schritt wir als nächstes gehen können“, sagt Mario. „Und wir richten unseren Blick auch schon auf die Therapie, fragen uns, welche Themen wichtig sind und wie wir die Motivation aufrechterhalten.“ Lew weiß dank Marios Unterstützung jetzt immer besser, in welche Richtung er gehen kann und will. „Jedes Treffen ist wie eine Art Trichter für meine Gedanken. Eine echte Hilfe mich zu sortieren.“
Bis zu 120 Soziotherapieeinheiten können übrigens innerhalb von drei Jahren als Kassenleistung verordnet werden. Auch Hausärzte dürfen einmalig bis zu fünf Einheiten verordnen. Mario hofft, dass das noch viel häufiger in Anspruch genommen wird. „Die Soziotherapie ist so wertvoll, weil wir den Menschen mit anderen Ansichten und Impulsen Mut machen, einen kleinen Schritt weiter ins Leben zu gehen. Gemeinsam mit ihnen neue Haltepunkte und Strukturen zu finden, das macht Hoffnung.“ Für Lew wünscht er sich, dass er seine Richtung und Freude am Leben findet.
Und was wünscht sich Lew? „Ich will leben. Nicht im Dreck zuhause, sondern in einem strukturierten Alltag. In einer hübschen kleinen Wohnung, in die ich Freunde einladen kann. Ohne Existenzängste und ohne ständiges Hinterfragen, was ich machen soll und wofür eigentlich. Einfach leben.“